Anlage zum Rundschreiben 10/2003

Rundschreiben 10/2003

NATURA 2000
Informationsveranstaltung 11. August 2003

Sehr geehrte Damen und Herren,

Sie haben am 11. August 2003 an der Informationsveranstaltung NATURA 2000, Nachmeldetranche, in den Räumen des Landwirtschaftlichen Buchführungsverbandes teilgenommen. Mit diesem Schreiben erhalten Sie eine Zusammenfassung der Veranstaltung und eine Empfehlung für die Form einer Stellungnahme. Mit gesondertem Schreiben folgt in wenigen Wochen die anläßlich der Veranstaltung beschlossene Ausarbeitung des Kölner Büros für Faunistik, die eine Grundlage für individuelle Einwendungen sein kann. Der Auftrag ist erteilt.

Nachdem in einer ersten Tranche im Jahre 1997 bestehende Naturschutzgebiete zusätzlich als FFH-Gebiete an die Europäische Kommission benannt wurden, wählte das Land Schleswig-Holstein in einer zweiten Tranche um die Jahreswende 1999/2000 ca. 51.000 ha Landfläche teils als FFH-, teils als Vogelschutzgebiete aus. In der Folgezeit wurden diese Flächen an die Europäische Kommission benannt.

Die Europäische Kommission hat sich auf Betreiben der Naturschutzverbände auf den Standpunkt gestellt, die bisherigen Gebietsmeldungen reichten nicht aus. Im Jahre 2002 fanden deshalb auf Einladung des European Topic Center on Nature Conservation (ETCNC; eine beim Naturkundemuseum in Paris angesiedelte Institution, deren Zuarbeit die Europäische Kommission zur Überprüfung der nationalen Gebietsmeldungen in Anspruch nimmt) sog. "wissenschaftliche Seminare" statt. Sowohl das Seminar für die atlantische biogeographische Region in Den Haag, zu der der Westteil Schleswig-Holsteins bis zum Mittelrücken gehört, als auch das Seminar zur kontinentalen biogeographischen Region in Potsdam, zu der der Osten des Landes Schleswig-Holsteins gehört, stellten mit Bezug auf ca. 25 Arten und ca. 30 Lebensraumtypen nach den Anhängen I und II FFH-RL angebliche Meldedefizite fest.

Dabei ist im einzelnen völlig unklar, woraus die Feststellung abgeleitet wurde, es bestehe ein "Defizit". Offenbar wurden die Flächenanteile bestimmter Arthabitate oder Lebensraumtypen in ein prozentuales Verhältnis zum Gesamtvorkommen des jeweiligen Arthabitates oder Lebensraumtypes im Mitgliedstaat gesetzt. Schon dies wäre unzulässig, da die Kriterien des Anhanges III FFH-RL qualitativ aufgebaut sind (Repräsentativität, Größe, Erhaltungsgrad) und eine quantitative oder prozentuale Betrachtung diesen maßgeblichen sog. naturschutzfachlichen Kriterien nicht entspricht. Zudem sind die Referenzdaten über die Gesamtvorkommen völlig unklar, denn in der Bundesrepublik hat nie eine einheitliche Kartierung der FFH-relevanten Arthabitate und Lebensraumtypen stattgefunden.

Gleichwohl wurden als Ergebnis der Seminare Tabellenwerke herausgegeben, die in verschiedenen graduellen Abstufungen Nachmeldebedarf für bestimmte Arten und Lebensraumtypen anmeldeten. Bei den Arten spielen eine besondere Rolle Steinbeißer (ein Fisch), Kammolch und Rotbauchunke etc., bei den Lebensraumtypen bestimmte Gewässer-LRT und bestimmte Wald-LRT. Der so ermittelte "Nachmeldebedarf" wurde nach informellen Absprachen in der Länderarbeitsgemeinschaft Naturschutz (LANA) auf die einzelnen Bundesländer aufgeteilt, wobei auch hier Kriterien nicht nachvollziehbar sind. Offenbar haben insbesondere Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern besonders großen Nachmeldebedarf anerkannt und demgemäß Flächen zur weiteren Auswahl vorgeschlagen, die rund 100 % der Fläche der bisherigen Tranchen ausmachen bzw. überschreiten.

Die vorgelegte dritte Tranche umfaßt für Schleswig-Holstein ca. 50.000 ha Landfläche, davon nach Angaben des Ministeriums ca. 7.000 ha Ackerfläche und ca. 3.500 ha Wirtschaftswald.

Von den Flächen sind einige zugleich auch als Vogelschutzgebiete ausgewählt. Die Auswahlkriterien bei Vogelschutzgebieten folgen nicht aus der FFH-Richtlinie, sondern aus der Vogelschutzrichtlinie. Sie sind in der Vogelschutzrichtlinie im einzelnen nicht ausgestaltet. Die Vogelschutzrichtlinie spricht lediglich davon, daß die "zahlen- und flächenmäßig geeignetsten (Superlativ !) Gebiete" auszuwählen sind. Das Land Schleswig-Holstein hat bisher nachvollziehbare Kriterien zur Ausfüllung des Tatbestandsmerkmales nicht vorgelegt. Deshalb, nicht weil zu wenig Vogelschutzgebiete identifiziert worden seien, hat die Europäische Kommission Klärungsbedarf geltend gemacht. Die Identifizierung der Vogelschutzgebiete jedenfalls folgt gänzlich anderen Regeln, als die hier besprochene Auswahl von FFH-Gebieten.

Zu den Gebieten der Nachmeldetranche sind Unterlagen in Form von Kurzgutachten und Karten vorgelegt. Zu diesen Unterlagen ist Gebietskörperschaften und Eigentümern eine Stellungnahmemöglichkeit eingeräumt, und zwar bis zum

15. Oktober 2003.

Bis zu diesem Tage müssen die Stellungnahmen beim Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Landwirtschaft des Landes Schleswig-Holstein, z. H. Herrn SchmidtMoser, Mercatorstr. 3, 24106 Kiel eingegangen sein.

Das Ministerium hat angekündigt, parallel zur Öffentlichkeitsbeteiligung bereits ein sog. "Konsultationsverfahren" mit der Europäischen Kommission durchzuführen, ob die vorgeschlagenen Gebiete der Nachmeldetranche ausreichen oder nicht. Dieses Konsultationsverfahren entwertet inhaltlich die Öffentlichkeitsbeteiligung, weil sich das Land gegenüber der Europäischen Kommission vorfestlegt.

Gleichwohl sollte jeder Betroffene die Möglichkeit zu einer Stellungnahme nutzen. Erfolgversprechend sind dabei nach der beklagenswerten, aber nun einmal feststehenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes in der jetzigen Auswahlphase nicht Argumente, die den Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sowie den regionalen und örtlichen Besonderheiten Rechnung tragen, wie sich dies aus Artikel 2 Abs. 3 FFH-RL ableiten ließe. Der Europäische Gerichtshof gibt für die Phase der Auswahl klar vor, daß ausschließlich Artikel 4 Abs. 1 FFH-RL anzuwenden ist. Die Vorschrift spricht von den "in Anhang III (Phase 1) festgelegten Kriterien und einschlägigen wissenschaftlichen Informationen". Dies sind die "naturschutzfachlichen Argumente", von denen so oft die Rede ist.

Demgemäß sollten sich Stellungnahmen in ihrer Gliederung an Anhang III Phase 1 FFH-RL orientieren, d. h. für Lebensraumtypen, daß Ausführungen zum Vorkommen, zum Repräsentativitätsgrad, zur Größe und zum Erhaltungsgrad gemacht werden sollten. Arten sind auf ihr Vorkommen, ihre Populationsgröße und -dichte, ihren Erhaltungsgrad sowie ihren Isolierungsgrad zu untersuchen. Zu den Einzelheiten wird auf Anhang III FFH-RL verwiesen, der diesem Schreiben noch einmal als Anlage 1 beigefügt ist.

In der Veranstaltung hat Dr. Claus Albrecht vom Kölner Büro für Faunistik, Kaesenstr. 13, 50677 Köln, Tel. 0221/9231618 weitere Einzelheiten anhand von Overhead-Folien dargelegt. Diese Folien finden Sie beigefügt als Anlage 2.

Das Kölner Büro für Faunistik hat als Grundlage für individuelle und gebietsbezogene Stellungnahmen eine Untersuchung empfohlen, zu welchen Lebensraumtypen und Arten die "wissenschaftlichen Seminare" welchen Nachmeldebedarf ergeben haben. Diese Untersuchung soll sodann zu den jetzt vom Land vorgelegten Nachmeldevorschlägen ins Verhältnis gesetzt werden. Es wird sich erweisen, daß eine Reihe von Lebensraumtypen und Arthabitaten vom Lande Schleswig-Holstein nunmehr benannt wurden, obwohl insoweit gar kein Nachmeldebedarf festgestellt wurde. Das Land Schleswig-Holstein hat sich also nicht nur nach zweifelhaften Kriterien weiteren Nachmeldebedarf angezogen, sondern diesen Bedarf sogar noch überobligationsmäßig übererfüllt.

Die entsprechende Untersuchung ist zwischenzeitlich in Auftrag gegeben. Sie wird mit gesondertem Schreiben an die im Arbeitskreis Eigentum und Naturschutz zusammengeschlossenen Verbände sowie an die Teilnehmer der Informationsveranstaltung am 11. August 2003 versandt.

Jeder Eigentümer ist aufgerufen, eine möglichst qualifizierte Stellungnahme zu den Gebietsvorschlägen abzugeben. Die Rechtsfolgen für einmal ausgewählte und in die bei der Europäischen Kommission geführten Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung aufgenommenen Flächen sind erheblich. Nach § 20 d Abs. 1 LNatSchG sind die Flächen grundsätzlich als Schutzgebiete (NSG, LSG etc.) auszuweisen. Bis zur Unterschutzstellung gilt nach § 20 d Abs 4 LNatSchG ein gesetzliches Beeinträchtigungsverbot ähnlich dem Biotopschutz. Für Projekte in oder in der Umgebung der Gebiete besteht eine Pflicht zur Verträglichkeitsprüfung nach § 20 e LNatSchG. Ergibt die Prüfung eine Unverträglichkeit, so ist das Projekt oder der Plan grundsätzlich unzulässig. Nach Artikel 6 FFH-RL sind die Mitgliedstaaten zu einer "Bewirtschaftungsplanung" verpflichtet, wobei die Einzelheiten hier noch offen sind.

Als Anlage 3 ist diesem Schreiben ein Vorschlag für die Form der Stellungnahmeschreiben beigefügt. In der Veranstaltung wurden zu bestimmten häufigen Gewässer- und Waldlebensraumtypen die Definitionen aus dem Handbuch des Bundesamtes für Naturschutz und aus dem Interpretation Manual der Europäischen Kommission ausgegeben. Diese Definitionen sind der Beurteilung des Vorkommens zugrunde zulegen. Bei ihrer Anwendung besteht ein breiter fachlicher Spielraum, der ausgeschöpft werden sollte.

Wir danken dem landwirtschaftlichen Buchführungsverband, den Herren Dipl.-Ing. agr. und Steuerberatern Kühlmann und Hirschberg, für die Möglichkeit der Veranstaltung in ihren Räumlichkeiten.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Giesen

Rundschreiben 10/2003