Rundschreiben 9/2004


NATURA 2000

Sehr geehrte Damen und Herren,

mit dieser Sonderausgabe zu NATURA 2000 möchten wir Sie über die Rechtsentwicklung auf dem laufenden halten:

Die Auswahlverfahren der dritten, vierten und fünften Tranche in Schleswig-Holstein sind abgeschlossen. Es darf vermutet werden, daß die Meldungen über das BMU unterwegs zur Europäischen Kommission sind.

Dieser Stand des Verfahrens wirft erneut die Frage nach Rechtsschutzmöglichkeiten auf. In den Mittelpunkt des Interesses rückt eine bisher nicht ausreichend gewürdigte Vorschrift: § 20 d) Abs. 4 Satz 3 LNatSchG.

Die Vorschrift dehnt das gesetzliche Beeinträchtigungsverbot aus. Setzte es bisher die Bekanntmachung von FFH- und Vogelschutzgebieten im Bundesanzeiger voraus, so gilt das Verbot nun "entsprechend für der Europäischen Kommission gemeldete, aber noch nicht nach den Absätzen 1 bis 3 geschützte Gebiete".

Ab dem Zeitpunkt der Meldung gilt damit ein Verbot für Veränderungen in FFH- oder Vogelschutzgebietsvorschlägen, die zu erheblichen Beeinträchtigungen des Gebiets in seinen für die Erhaltungsziele maßgeblichen Bestandteilen führen können.

Dies wiederum bedeutet, daß nach Meldung Rechtsschutz kein vorbeugender ist. Rechtsbehelfe reagieren dann auf eine Rechtsbeeinträchtigung, nämlich das Greifen des gesetzlichen Verbots.

Fraglich bleibt, wann ein Gebiet dem Gesetzeswortlaut nach "gemeldet" ist. Das Wort von der "Meldung" wird nämlich von den übrigen einschlägigen Rechtsgrundlagen nicht verwendet.

Wie dem auch sei. Schon die laufenden Klagen werden möglicherweise eine gerichtliche Auslegung der schwer verständlichen Vorschrift hervorbringen. Betroffenen in Schleswig-Holstein jedenfalls kann nur gesagt werden, daß die Vorschrift die Richtigkeit der bisherigen Rechtsprechung zur Zulässigkeit des Rechtsschutzes in Frage stellt.

Darüber hinaus sei auf folgendes hingewiesen:

  1. Gravierender Strukturfehler der FFH-Gebietsauswahl

Die Bundesratsdrucksache 161/04 vom 20.02.2004 dokumentiert einen Fehler der FFH-Gebietsauswahl, der noch erhebliche Bedeutung erlangen wird. In dieser Drucksache ist das Schreiben der Europäischen Kommission vom 20.11.2003 an das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit wiedergegeben, mit dem die Kommission um die Herstellung des Einvernehmens zum Entwurf der Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung nach Art. 4 Abs. 2 FFH-RL bittet. Dieses Schreiben enthält eine Anlage, in der vier Gebiete aufgeführt sind, die nach Ansicht der Europäischen Kommission nicht in die Liste mit Gebieten von gemeinschaftlicher Bedeutung aufgenommen wurden, weil deren gemeinschaftliche Bedeutung nicht gesichert sei.

Drei dieser Gebiete kommen aus Schleswig-Holstein (!). Es handelt sich um Naturschutzgebiete, die bereits im Rahmen der ersten Tranche an die Europäische Kommission gemeldet wurden (NSG Rickelsbüller Koog, NSG Wöhrdener Loch/Speicherkoog Dithmarschen, NSG Kronenloch/Speicherkoog Dithmarschen). In der Kommentierung der Europäischen Kommission zu diesen drei Gebieten heißt es, daß im Standarddatenbogen keine Lebensraumtypen nach Anhang I und keine Arten nach Anhang II FFH-RL angegeben sind.

Nun besteht Einigkeit, daß diese drei Naturschutzgebiete zu den "Kronjuwelen" des Naturschutzes in Schleswig-Holstein gehören. Selbstverständlich kommen in ihnen zahlreiche Lebensraumtypen und Arten sowohl nach der FFH- als auch Vogelschutzrichtlinie vor. Sie sind eben nur im Standarddatenbogen nicht angegeben worden.

Es heißt im Anschreiben des Bundesumweltministeriums an den Bundesratspräsidenten, daß die Zurückweisung dieser Gebiete auf Formfehlern beruhten, die derzeit (Februar 2004) gegenüber der Kommission ausgeräumt würden.

Der Vorgang ist symptomatisch für einen Fehler, der sich durch die gesamte Auswahl hindurchzieht und den unser Arbeitskreis seit jeher gerügt hat: Die Standarddatenbögen der Gebiete zur ersten und zweiten Tranche sind nur liederlich ausgefüllt worden. Folge ist, daß die Europäische Kommission nicht in vollem Umfang über das informiert wurde, was in Schleswig-Holstein schon geschützt ist. Folge davon wiederum ist, daß die Europäische Kommission, aus ihrer Sicht aufgrund mangelnder Information möglicherweise zu Recht, Schutzdefizite für Schleswig-Holstein festgestellt hat.

Wären die Standarddatenbögen zur ersten und zweiten Tranche vollständig ausgefüllt worden, hätte sich ein Schutzdefizit nicht in dem von der Landesregierung unter Berufung auf die Europäische Kommission behaupteten Ausmaß ergeben.

  1. Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zum Hochmoselübergang

In einem aktuellen Urteil zur Vogelschutzrichtlinie hat das Bundesverwaltungsgericht bedeutende Ausführungen zum faktischen Vogelschutzregime gemacht. Das Urteil ist am 01.04.2004 verkündet worden (AZ: 4 C 2.03).

Das Urteil bestätigt einen Baustopp für die Bundesstraße 50 zwischen der Bundesautobahn A 1 bei Wittlich und der B 327 bei Büchenbeuren. Dieser Neubau ist Teil einer großräumigen West-Ost-Straßenverbindung zwischen Belgien und dem Rhein-Main-Gebiet (Hochmoselübergang). Das Bundesverwaltungsgericht gibt einem anerkannten Naturschutzverein Recht, der den Planfeststellungsbechluß beklagt hatte. Der angefochtene Planfeststellungsbeschluß sei mit der Vogelschutzrichtlinie nicht vereinbar und deshalb rechtswidrig und dürfe bis zur Fehlerbehebung in einem ergänzenden Verfahren nicht vollzogen werden:

Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes ist die Auffassung, daß der Wald am Rothenberg Bestandteil eines faktischen Europäischen Vogelschutzgebietes sei, revisionsgerichtlich hinzunehmen. Eine derartige Auffassung sei das Ergebnis tatsächlicher Feststellungen, an die das Revisionsgericht gebunden sei.

Anmerkung: Das Bundesverwaltungsgericht bestätigt damit die außerordentliche Bedeutung von Tatsachenfeststellungen, d.h. des Inhaltes des Standarddatenbogens bzw. von alternativen Fachbeurteilungen.

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt ferner keine Anhaltspunkte dafür, daß der Wald "nur" als Pufferzone oder Abrundungsfläche in das Schutzgebiet einbezogen wurde, ohne selbst die erforderliche ornithologische Wertigkeit zu besitzen.

Anmerkung: Das Bundesverwaltungsgericht öffnet damit eine Türe; wenn Flächen nur als Pufferzone oder Abrundungsfläche einbezogen wurden, gilt auf ihnen das strenge Schutzregime nicht. Wiederum ein Beleg dafür, wie wichtig die objektive Feststellung der "Wertigkeit" einer Fläche zum Zeitpunkt der Gebietsidentifizierung ist.

Das Bundesverwaltungsgericht bestätigt ferner, daß die Schutzerklärung den Zeitpunkt bestimmt, in der das Schutzregime eines faktischen Vogelschutzgebietes nach Art. 4 Abs. 4 VSRL durch das Schutzregime nach Art. 6/7 FFH-RL ersetzt wird.

Anmerkung: Diese Feststellung ist nichts Neues.

Im entschiedenen Fall hatte die Landesregierung die Identifizierung des Waldes am Rothenberg als Vogelschutzgebiet im Ministerialblatt bekanntgegeben (ein Vorgehen, wie es beispielsweise das Land Niedersachsen ähnlich gewählt hat) und sogar eine Verordnung zur einstweiligen Sicherstellung erlassen. Das Bundesverwaltungsgericht stellt fest, daß diese beiden Rechtsakte nicht zu einem Regimewechsel führen. Das Bundesverwaltungsgericht erkennt folgende Voraussetzungen für den Regimewechsel:

  • Es muß ein "förmlicher Akt" vorliegen.

  • Der Mitgliedstaat müsse die besonderen Schutzgebiete "vollständig und endgültig" ausgewiesen haben.

  • Die Erklärung müsse das Gebiet Dritten gegenüber rechtswirksam abgrenzen und nach nationalem Recht "automatisch und unmittelbar" die Anwendung einer mit dem Gemeinschaftsrecht in Einklang stehenden Schutz- und Erhaltungsregelung nach sich ziehen,

kurz: Den Regimewechsel könne nur eine "endgültige rechtsverbindliche Entscheidung mit Außenwirkung" herbeiführen. Außerdem müsse die Schutzerklärung hinreichend bestimmt Schutzgegenstand, Schutzzweck, die zur Erreichung des Schutzzwecks notwendigen Gebote und Verbote und, soweit erforderlich, die Pflege-, Entwicklungs- und Wiederherstellungsmaßnahmen aufführen.

Anmerkung:   Das Bundesverwaltungsgericht läßt damit als Schutzerklärung nur einen Verwaltungsakt (Allgemeinverfügung) oder eine Verordnung genügen. Ob die Schutzerklärung europäischem Recht entspricht, unterliegt voller Überprüfung durch die Rechtsprechung. Wichtig: Das Bundesverwaltungsgericht läßt ausdrücklich offen, welche rechtliche Bedeutung die Bekanntgabe der Vogelschutzgebiete im Bundesanzeiger (dazu unsere Rundschreiben 11/2003, Anlage 1, und 1/2004) hat.

Der einstweiligen Sicherstellung fehle jedenfalls die inhaltliche Qualität sowie die Dauerhaftigkeit und Festigkeit, die für die rechtswirksame Erfüllung der Ausweisungspflichten zu fordern sei. Die Frage, welchen naturschutzrechtlichen Anforderungen eine Gebietserklärung hinsichtlich der Erhaltungsziele und der Schutzmaßnahmen im einzelnen genügen müsse, damit ein Regimewechsel eintreten könne, sei - soweit sie überhaupt einer über den Einzelfall hinausreichenden Klärung zugänglich ist - im Urteil nicht abschließend zu klären.

Anmerkung: Aus der Entscheidung sind Anhaltspunkte leider nicht erkennbar, ob die derzeitige Praxis des Landes Schleswig-Holstein korrekt ist, europäische Vogelschutzgebiete durch Landesverordnung ohne Differenzierung der Erhaltungsziele und der Schutzmaßnahmen auszuweisen.

Die Trasse der Autobahn führe zu nicht nur geringfügigen negativen Auswirkungen auf die zu schützenden Spechtarten. Flächenverbrauch und die Immissionen nach Betriebsaufnahme führten im Ergebnis zu einer flächenhaften Teilentwertung und Verkleinerung des Schutzgebiets (Zerschneidungsschäden).

Anmerkung: Das Bundesverwaltungsgericht folgt damit inhaltlich weitgehend den Auslegungshinweisen der Europäischen Kommission zum Begriff der "erheblichen Beeinträchtigung" im FFH-Schutzregime.

Das Urteil kann auch elektronisch von der Geschäftsstelle übermittelt werden.

  1. Abschwächung der Rechtsprechung zu den potentiellen FFH- und faktischen Vogelschutzgebieten

Das Bundesverwaltungsgericht hat die Reichweite seiner Rechtsprechung zu den faktischen Vogelschutzgebieten erheblich zurückgenommen. In seinem Urteil vom 22.01.2004 zur Planfeststellung der Autobahn 38 im Bereich der Leineniederung stellt das Gericht fest:

"Die Annahme, daß ein bestimmter Landschaftsraum ein faktisches Vogelschutzgebiet oder ein potentielles FFH-Gebiet ist, braucht sich in der Regel dann nicht aufzudrängen, wenn weder das aktuelle IBA-Verzeichnis noch Äußerungen der EU-Kommission Anhaltspunkte dafür bieten, daß die in der Vogelschutzrichtlinie bzw. der FFH-Richtlinie aufgeführten Eignungsmerkmale erfüllt sind".

Das Urteil ist eine klare Absage an die Schattenliste der Naturschutzverbände. Außerdem betont das Bundesverwaltungsgericht in der Entscheidung nochmals den Beurteilungsspielraum der Bundesländer für die Auswahl von Lebensraumtypen.

  1. Listungsverfahren für die Gebiete der ersten und zweiten Tranche in der Phase der Einvernehmensherstellung

Vor der endgültigen Listung durch die Europäische Kommission sieht die FFH-Richtlinie die Herstellung des Einvernehmens mit den Mitgliedstaaten zu einem Entwurf der Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung vor. Diese Phase ist eröffnet. Die Europäische Kommission hat den Listungsentwurf an das BMU übermittelt. Der Listungsentwurf ist auf dem Stande der Meldungen der ersten und zweiten Tranche. Interessanterweise enthält das Übermittlungsschreiben keinerlei Hinweis auf bestehenden Zeitdruck zur Ergänzung um die Gebiete der Tranchen 3 bis 5.

Das Umweltministerium hat zur Länderbeteiligung den Listungsentwurf an den Bundesrat übersandt. Die Beteiligung der Länder über den Bundesrat ist in einem Gesetz vorgesehen, das die Mitwirkung der Länder in Angelegenheiten der Europäischen Union regelt.

Durch die Beteiligung nur des Bundesrates und nicht der einzelnen Länder wird die Möglichkeit der Widersprüche einzelner Länder zu einzelnen Gebieten zuverlässig auf Null reduziert.

Gelegentlich ist in der Literatur erörtert worden, ob nicht eine Klage gegen den Bund erhoben werden könne, mit dem Ziel, den Bund gerichtlich zu verpflichten, das Einvernehmen zu einzelnen Gebieten gegenüber der Europäischen Kommission zu versagen. Darauf wird hingewiesen.

Zwischenzeitlich hat der Bundesrat sein Einvernehmen erteilt.

  1. Reaktion auf die Stellungnahme des Arbeitskreises

Das MUNL hat mit einer ausführlichen Erwiderung auf die Stellungnahme unseres Arbeitskreises zur FFH-Gebietsauswahl 3. Tranche reagiert. Die Reaktion auf die Stellungnahme zur 5. Tranche fiel knapper aus.

Beide Erwiderungen können von der Geschäftsstelle abgefordert werden. Sie überzeugen nicht.

Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit hat ausführlich auf eine vom Arbeitskreis abgegebene Stellungnahme zu den NATURA 2000 - Gebietsvorschlägen des Bundes in der deutschen Ausschließlichen Wirtschaftszone reagiert. Das sechsseitige Schreiben kann bei der Geschäftsstelle abgefordert werden. Es outet die angreifbaren rechtlichen Argumente des BMU.

Bei der Ausschließlichen Wirtschaftszone handelt es sich um Flächen seewärts der 12 Seemeilen - Grenze.

  1. Vorteile für landwirtschaftliche Betriebe in NATURA 2000 - Gebieten ?

Immer wieder wird behauptet, landwirtschaftliche Betriebe, deren Flächen in NATURA 2000 - Gebieten liegen, hätten von dieser Einbeziehung Vorteile. Das Innenministerium des Landes Schleswig-Holstein hat im Rahmen eines Lageberichtes 2003 nun Daten über die aus dem Programm Zukunft auf dem Land (ZAL) in Anspruch genommenen Gelder veröffentlicht.

Förderung nach Art. 13 bis 21 (benachteiligte Gebiete) erhielten 12 Betriebe mit einer Fläche von insgesamt rund 1.000 ha. Die durchschnittliche Ausgleichzahlung betrug je Betrieb 1.750,00 € und je Hektar 42,00 €.

Zahlungen gemäß Art. 16 (Gebiete mit umweltspezifischen Einschränkungen) erhielten 275 Betriebe mit einer Fläche von insgesamt rund 3.000,00 ha. Je Betrieb wurden im Durchschnitt 724,00 € und je Hektar 66,00 € Ausgleichszahlungen gewährt.

Diese Zahlen relativieren das häufig vorgebrachte Argument.

  1. Erkenntnis besser spät als nie

In den Nationalparknachrichten 5-6/2004, dem Informationsblatt aus dem Nationalparkamt Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer, heißt es, daß sich die stachelige Ackerkratz-Distel in den Salzwiesen zu breit macht. Handlungsbedarf sei angesagt. Es bleibe nur die Möglichkeit, die Disteln durch Mahd und/oder den Einsatz von "Wuchsstoffmitteln" kurzzuhalten.

Eine durchgehende Beweidung hätte den Disteln auf natürlichem Wege vorgebeugt.

Was gab es über die Frage für Diskussionen ! Wie oft schlug der Westküste in dieser Frage "wissenschaftlicher" Hochmut aus dem Nationalparkamt entgegen !

Aber der Blick geht nach vorn: Endlich, endlich Erkenntnis, die vielleicht zur Annäherung der Positionen führen kann.

Mit freundlichen Grüßen

gez. Dr. Giesen


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