Rundschreiben 1/2006


NATURA 2000

  1. Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland wg. unvollständiger Umsetzung der FFH-Richtlinie in nationales Recht

  2. Aktualisierung der Standarddatenbögen "Doc Hab 05-06-08"

Sehr geehrte Damen und Herren,

aus aktuellem Anlaß ist auf zwei bedeutende Stationen der unübersichtlich gewordenen Rechtsentwicklung zu NATURA 2000 hinzuweisen:

  1. Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland wg. unvollständiger Umsetzung der FFH-Richtlinie in nationales Recht

Die Europäische Kommission führt Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen der angeblich mangelhaften Umsetzung der FFH-Richtlinie.

Zu nennen und zu unterscheiden sind jedenfalls das Vertragsverletzungsverfahren wegen der angeblich unzureichenden Auswahl und Benennung von FFH-Vorschlagsgebieten. Jenes Vertragsverletzungsverfahren hat das Aktenzeichen 1995/2225. Es befindet sich in einem noch außergerichtlichen Verfahrensstande. Unter dem 19.12.2005 hat die Europäische Kommission die sog. "mit Gründen versehene Stellungnahme" an die ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der Europäischen Union übersandt. Das Verfahren wird häufig von Behördenvertretern in Bezug genommen, wenn es um Nachmeldungen von FFH-Gebieten geht. Unterlagen dazu sind bei der Geschäftsstelle erhältlich.

Davon unabhängig ist das in dieser Woche durch Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) abgeschlossene Verfahren der Europäischen Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen der unvollständigen Umsetzung der FFH-Richtlinie in nationales Recht. Dieses Verfahren trägt das Aktenzeichen C-98/03. Die Schlußanträge des Generalanwaltes Antonio Tizzano vom 24.11.2005 sind hilfreich für die Auslegung und das Verständnis des Urteils. Sie können ebenfalls bei der Geschäftsstelle abgefordert werden.

Das Urteil ist hier im Umdruck als Anlage 1 beigefügt.

Die Europäische Kommission hat der Bundesrepublik Deutschland sechs verschiedene Verstöße gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 6 Abs. 3 und 4 sowie den Art. 12, 13 und 16 FFH-RL vorgeworfen und ist vom EuGH bestätigt worden:

  • Die Definition des Begriffes "Projekte" in § 10 Abs. 1 Nr. 11 Bst. b) und c) BNatSchG sei zu eng und nehme bestimmte für die Schutzgebiete potentiell schädliche Tätigkeiten und Eingriffe außerhalb besonderer Schutzgebiete von der Verpflichtung zur Verträglichkeitsprüfung aus.

  • § 36 BNatSchG führe nur dann zur Versagung der Genehmigung für eine emittierende Anlage, wenn die erhebliche Beeinträchtigung eines Schutzgebietes im Einwirkungsbereich der Anlage angenommen werde. Auswirkungen auf Schutzgebiete von Anlagen außerhalb des Einwirkungsbereich würden entgegen der FFH-RL nicht berücksichtigt.

  • § 43 Abs. 4 BNatSchG lasse die unabsichtliche Beschädigung von Fortpflanzungs- oder Ruhestätten geschützter Tierarten zu. Dies verstoße gegen Art. 12 Abs. 1 Bst. d) FFH-RL, der ein ausnahmsloses, strenges Schutzregime fordere.

  • Die artenschutzrechtlichen Ausnahmeregelungen genügten nicht Art. 16 Abs. 1 FFH-RL.

  • § 6 Abs. 1 des Pflanzenschutzgesetzes berücksichtige nicht ausreichend geschützte Arten bei der Anwendung von Pflanzenschutzmitteln. Die Fischereivorschriften von acht Bundesländern verstießen gegen die Artenschutzvorschriften der FFH-RL, weil sie keine Fangverbote enthielten, die den Anforderungen der Richtlinie genügten.

Das Urteil wird den Gesetzgeber in Bund und Ländern unter den Druck einer Novellierung der angesprochenen Gesetze bringen. Es besteht die Gefahr, daß der Bundes- und die Landesgesetzgeber dann in dem Bestreben, nun aber "alles richtig machen zu wollen" über das Ziel hinausschießen.

Es wäre nicht das erste Mal ...

Mit einer Verschärfung des FFH-Schutzregimes und einer Ausweitung des Umgebungsschutzes ist zu rechnen. Es hat sich eine völlig andere "Geschäftsgrundlage" für die Folgenabschätzung der Gebietsauswahl ergeben.

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  1. Aktualisierung der Standarddatenbögen "Doc Hab 05-06-08"

Bekanntlich definiert der Inhalt des Standarddatenbogens die für die Schutzgebietsausweisungen maßgeblichen Erhaltungsziele und die für Verträglichkeitsprüfungen maßgeblichen Erheblichkeitsschwellen. Der Standarddatenbogen ist die alles entscheidende Informationsgrundlage.

Die wenigsten Standarddatenbögen sind inhaltlich korrekt. Dies liegt zum einen daran, daß schon beim erstmaligen Ausfüllen und Vorlegen an die Europäische Kommission Fehler gemacht wurden, Lebensraumtypen oder Arten also unvollständig oder im Gegenteil angegeben wurden, wo sie nicht vorhanden sind. Zum anderen ändert sich auch die Natur, so daß selbst der heute korrekte Standarddatenbogen morgen unvollständig oder unrealistisch sein kann.

Im Grunde genommen handelt es sich um das seit jeher sowohl in der Vogelschutz- als auch in der Habitatrichtlinie angelegte Problem bürokratischer Starrheit.

Die Europäische Kommission hat nun in einer "Note to the Members of the Habitats Committee" vom August 2005 eine Anleitung für das "Updating of the NATURA 2000 - Standard Data Forms and Database" herausgegeben. Das Dokument wird von Eingeweihten mit "Doc Hab 05-06-08" zitiert. Es ist hier im englischen Originaltext als Anlage 2 beigefügt.

Je nach Lage des Falles kann das "Updating" positive oder negative Folgen für die Betroffenen und deren Interessen haben. Ein Auffüllen des Standarddatenbogens wird in aller Regel eine Ausdehnung der Schutzziele und eine Absenkung der Erheblichkeitsschwellen zur Folge haben. Umgekehrt können Streichungen die Erhaltungsziele konzentrieren und Erheblichkeitsschwellen anheben.

Um ein "Updating" handelt es sich auch bei Grenzänderungen, also bei der Herausnahme oder bei der Hereinnahme von Flächen aus oder in die Gebietskulisse.

Unser Arbeitskreis hat wegen der Bedeutung von Doc Hab 05-06-08 eine Übersetzung in die deutsche Sprache anfertigen lassen, die wir hier als Anlage 3 beifügen.

Mit freundlichen Grüßen

gez. Dr. Giesen

Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3

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